Alterssichtigkeit oder: Das Glück der Erfahrung

Alterssichtigkeit oder Das Glück der Erfahrung - https://opunktkpunkt.de
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Ich habe nun eine Lesebrille. Es sei beginnende Alterssichtigkeit, sagte man mir. Das klang wie ein Abschied von etwas, das ich nicht missen wollte, sodass ich zunächst reflexhaft zusammenzuckte.
Doch die Sorge war unbegründet: Denn tatsächlich habe ich auch eine andere Art der Alterssichtigkeit entwickelt, die eine ganz wunderbare Sache ist: Dank ihr habe ich inzwischen einen veränderten Blick auf viele Bereiche des Lebens und meine Einstellung zu ihnen verändert. 

Wenn ich nun mit diesem, nun veränderten Blick auf frühere Ansichten, Ziele und Wünsche zurückblicke, sehe ich inzwischen leicht, was mir damals noch verschlossen blieb; Erfahrung nennt man das wohl. Diese Erfahrung erscheint mir im übertragenen Sinne wie eine Lesebrille für’s Leben. 

Lesebrillen stellen scharf, was im unmittelbarem Nahbereich vor einem liegt. Sie fokussieren, was verschwommen ist. Bei Lebenserfahrung ist das ähnlich: Was habe ich mich doch noch vor einigen Jahren über Dinge aufgeregt! Wie nah sind mir doch Begebenheiten gegangen! Mir waren so viele Dinge so unendlich wichtig, die mir heute nebensächlich erscheinen, wie ich auch heute Dinge wesentlich finde, an die ich damals nicht einmal gedacht habe. Die Einstellungen ändern sich wie die Prämissen und umgekehrt. 

Ich hatte Dinge an mich so nah herangelassen ohne genau zu sehen und damit ohne zu wissen, was mir überhaupt so nahe gegangen war und warum. Dadurch, dass ich die damals Dinge nicht so gut erkannt habe, war ich gezwungen, sie zu interpretieren, sie zu deuten. Die Folge: Ich reagierte lediglich auf Deutungen und Interpretationen, auf Einbildungen also, die mein eigener Verstand erfunden, geformt und meine mir eigene Welt gesetzt hatte. Mit der Wirklichkeit hatten sie oft erstaunlich wenig zu tun. Ich war also Illusionen meiner eigenen Welt auf den Leim gegangen und hatte mich somit nur mit mir selbst anstatt mit der Wirklichkeit beschäftigt. Damit war ich oft nicht in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen und sinnvolle Strategien zu entwickeln. Ich hätte im Grunde schon damals eine Lesebrille für’s Leben benötigt um zu erkennen, dass diese diffusen Dinge, die ich nicht richtig erkannt habe, im Grunde harmlos oder gar falsch und somit der Aufregung nicht wert waren – und der Zeit ebensowenig, die ich für sie aufgebracht hatte. 

Mehr noch: Ich hätte durch ein besseres Erkennen der Dinge und Personen in meinem unmittelbaren Nahbereich so manches und manche auf Distanz zu mir gehalten. 

Nun, mit meiner Lesebrille fürs Leben, nehme ich mit meiner heutigen Sicht vieles gelassener. Nicht nur, dass ich manche Dinge einfach besser einschätzen kann – ich erkenne auch besser, ob eine Beschäftigung damit überhaupt lohnt. Das erspart mir inzwischen viel Mühe und Unsicherheit.

Ich denke, dass diese Phase – eine Zeitspanne, die je nach Typ und Person um viele Jahre variieren kann – vor allem von Zielen in der Ferne bestimmt wird. Der Fokus auf den Fernbereich vernachlässigt zunächst den Nahbereich und nimmt ihn außer Sicht. 

Doch das mag sich ändern mit den Jahren, wie bei mir. Dann drängt sich der Nahbereich ins Visier und stellt sich scharf. Mit diesem Fokus ändert sich die Einstellung. Und das finde ich sehr gut so. 

Wenn das, was man gemeinhin als Älterwerden bezeichnet, die Lesebrille fürs Leben mit sich bringt, dann bin ich sehr froh um jedes Jahr, das ich älter geworden bin und älter werde. Neue Sichtweisen bringen neue Erkenntnisse, veränderte Perspektiven runden das Gesamtbild ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich am Ende der Fahnenstange angelangt bin – warum sollte ich auch? Es ist eine Entwicklung, die nicht endet, und so freue ich mich regelrecht auf die Erkenntnisse, die noch vor mir liegen. Und meiner Lesebrille auf der Nase. 


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